Die Rampe
Nur noch zwei alte Männer saßen auf ihren Koffern. Man sah an Ihren Kleidern, dass sie beide schon bessere Tage gesehen hatten.
Der Zug war mit 1500 Juden aus Theresienstadt nach Auschwitz gekommen. Männer, Frauen und Kinder.
Die Selektion war gut eingespielt. Die SS-Wachmänner mit ihren Schäferhunden und Dr. Mengele, der Lagerarzt, standen auf der Rampe und verteilten die Leute. Die Arbeitsfähigen marschierten unter den lauten Rufen der Wachmänner zum Stammlager. Die Schwachen -überwiegend Kinder und alte Leute- wurden in die Duschräume getrieben.
Nur die beiden Alten waren irgendwie vergessen worden und saßen mitten unter den Gepäckstücken. Nicht weit entfernt kamen dichte Rauchwolken aus den Kaminen der Krematorien.
„Jetzt wird’s wohl zu Ende sein“, sagte der eine der beiden und fing an das Schma Israel zu beten. Der andere fing an zu reden. „Was haben wir im Leben falsch gemacht, dass Jahwe uns so straft? Ich war ein guter Jude, bin jeden Sabath in die Synagoge und habe als Professor an der Wiener Kunstakademie bis zu meiner Pensionierung kurz vor dem ersten Krieg junge Künstler ausgebildet.
An eine Sache erinnere ich mich. Da war ich nicht gerecht. Ich hatte schlecht geschlafen und mich beim Frühstück auch noch mit meiner Frau gestritten. Anfang Oktober 1908 war es. Ich war einfach schlecht gelaunt. Und der erste Kandidat an diesem Morgen hatte es auszubaden. Seine Zeichnungen waren nicht mal schlecht. Er war erst 18 Jahre alt und kam zum zweiten und damit zum letzten Mal. Bei der ersten Prüfung -genau ein Jahr zuvor- hatte er es nicht geschafft. Ein schmalbrüstiges Bürschchen mit unstetem Blick und sehr aufgeregt. Ich war genervt und meine schlechte Laune verschlimmerte sich, weil er nur Gebäude und Straßen gezeichnet hatte. Kein einziges Portrait, keine Person. Nichts Lebendes.
„Vielleicht versuchen Sie es mit der Architektur, wenn Sie so gerne gerade Striche zeichnen“ sagte ich ihm und machte ihm klar, dass er wieder nicht bestanden hatte. Ohne Gruß ging er aus dem Zimmer.
Adolf oder Alphons Hitler oder Hüttler hieß er. Und ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist; ich habe nie mehr von ihm gehört!“