Für Anke, Chris und Felix
Meine Mutter – ein ganz normales Leben
Am 14. November 2013 ist meine Mutter Veronika gestorben. 2 Wochen nach ihrem 91. Geburtstag. Sie hat 2 Inflationen und einen Krieg erlebt; war nie neidisch oder unzufrieden. Hat ein Haus gebaut und 2 Söhne geboren; viel gelesen und nie Sport getrieben. Seit Ihrem 25. Lebensjahr hat sie jeden Tag 20 Zigaretten geraucht und war nie ernstlich krank.
Ich will versuchen, für ihre Enkel ihr Leben zu beschreiben. Ein Leben, das sich bis auf ein paar Kriegsjahre in einem Dorf namens Schwebheim abspielte.
Kindheit und Jugend
Meine Mutter Veronika wurde im Oktober 1922 -in einer richtig schlechten Zeit- in Schwebheim, einem Dorf ein paar Kilometer südlich von Schweinfurt geboren.
Vroni, wie sie ihr ganzes Leben genannt wurde, war das erste Kind von Schorsch und Lina Schneider. Schorsch und Lina waren -für unsere Verhältnisse- blutjung: 22 und 20 Jahre alt. Beide
waren bettelarm, mussten wegen der Schwangerschaft heiraten (ein uneheliches Kind wäre eine Schande für Lina und ihre ganze Verwandtschaft gewesen) und hausten in einem einzigen Zimmer direkt
unter den unverkleideten Dachziegeln, Sie besaßen -wie sie später voll Stolz erzählten- nur einen Strohsack als Bett. Beide hießen auch schon vor der Hochzeit „Schneider“, obwohl sie nicht
verwandt waren. Aber im Dorf waren alle -wenigstens über 5 Ecken“- miteinander verwandt. Man heiratet innerhalb des Dorfes. Äußerstenfalls jemanden aus Sennfeld oder Gochsheim. Das waren -neben
Schwebheim- die einzigen evangelischen Dörfer innerhalb einer tief-katholischen Gegend.
Das Kind nannten sie nach der Schwester von Lina, die dadurch zu ihrer Patin wurde, die „Haase-Patin“. Sie hatte den Aufstieg geschafft; den Ingenieur und späteren Bürgermeister Jean (genannt
Schank) Haas geheiratet und war immer das große Vorbild für Lina.
Schorsch musste mit 18 Jahren noch in den letzten Kriegswochen Soldat werden. Auf der Zugfahrt an die französische Front wurde bekannt gegeben, dass der Krieg zu Ende war. Die Matrosen in Kiel
hatten gemeutert, weil sie nochmals in eine sinnlose Seeschlacht ziehen sollten. Und die Feldmarschälle Hindenburg und Ludendorff fuhren zum Kaiser, um ihm mitzuteilen, dass der Krieg
verloren war. Die deutschen Soldaten waren nach 4 Jahren Krieg „zu Schlacke ausgebrannt“. Schorsch warf sein Gewehr aus dem Zug-Fenster und schlug sich nach Hause durch.
Wenn der Krieg noch 1 Monat länger gedauert hätte, wäre Schorsch wahrscheinlich in der „Blut- und Knochenmühle“ verschwunden und es hätte keine Vroni, keinen Helmuth, keinen Jürgen und keine Anke
und Christine gegeben. Wie das Schicksal doch spielt!
Auch Deutschland war „zu Schlacke ausgebrannt“. Außer einigen Schiebern und Gaunern in Berlin, die diese Zeit makaberweise „die Goldenen Zwanziger“ nannten, ging es allen Leuten schlecht. Aber
es sollte noch schlechter kommen: 1923 verlor das Geld in wenigen Monaten immer mehr an Wert. Zuletzt musste man für 1 Dollar die unvorstellbare Summe von 4,2 Billionen (eine 1 mit 12 Nullen)
zahlen! Danach kam die Reichsmark. Der Dollar kostete wieder –und das bis in die 70er-
4 Mark 20.
Schorsch, als gelernter Schreinergeselle, schlug sich wacker, Er arbeitet sich hoch. Erst bei einem Schreiner und Bestatter, wo er die Toten wegen der engen Treppenhäuser in einem Sack ins
Erdgeschoss und damit in den Sarg schleppen musste.
Dann in der Schreinerei beim “Sachs“. Morgens eine Stunde zu Fuß nach Schweinfurt; 10 Stunden in der Fabrik; 1 Stunde nach Hause. Und danach auf den Acker oder am Haus bauen.
So wuchs Vroni im eigenen Haus auf. Am nördlichen Ende des Dorfes in der „Heide“, wegen des unfruchtbaren Sandbodens so genannt. Das eigentliche Dorf mit knapp 1000 Einwohnern endete für die
Altbürger an der „Aschenhütte“, einer ansteigenden Straße vom Unkenbach zur „Heide“. Danach kam der Wald und dann der Main und dann die Stadt.
Das Haus hatte -trotz viel Eigenarbeit und ohne Komfort- 15 Tausend Reichsmark gekostet. Bei einem Wochenlohn eines Fabrikarbeiters von 50 Mark muss
man dies ungefähr mal 10 in Euro nehmen.
Lina, die Mutter von Vroni, hat ihr ganzes Leben lang alle Ausgaben in ein kleines Buch eingetragen. Wollte so vor allem alles gerecht an ihre beiden Kinder verteilen, damit es keine
Erbstreitigkeiten gibt.
Es hat nichts genutzt.
Wegen des Erbes hat sich Vroni später mit ihrem Bruder Frieder zerstritten. Nur bei den Geburtstagen rief man sich gegenseitig an. Obwohl die beiden Häuser nur einen Steinwurf auseinander
waren.
Nach der Inflation kam dann Vronis Bruder Frieder dazu. Er war etwas schwächlich; anders als die robuste große Schwester. Und wurde nach Vronis Meinung immer bevorzugt. So musste Vroni den
bitteren weißen Lebertran schlucken. Frieder bekam das teure Sanostol.
Vronis Mutter Lina hat oft erzählt, dass Schorsch am Freitag mit einem Rucksack voll Banknoten nach Hause kam und dass dieses Geld am Samstag gerade für eine Schachtel Streichhölzer reichte. Wenn
man es nicht schnell genug ausgegeben hatte!
Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, war Vroni 10 Jahre alt und wuchs dann in den Wirtschaftsaufschwung, die Paraden und die Erfolge der neuen braunen Machthaber hinein. Zeit ihres Lebens hat
sie nicht einsehen wollen, dass auch sie -als begeistertes Jungmädel im „Bund Deutscher Mädel“-von einer Verbrecherbande hereingelegt wurde.
Nach dem Krieg behauptete sie, unter Hitler hätte man keine Angst vor Einbrechern und Überfällen haben müssen. Sie hatte aber vorher mal erzählt
und offensichtlich vergessen, dass sie Ende der 30er auf dem Weg von Schweinfurt nach Schwebheim von einem Unbekannten vom Fahrrad gezerrt wurde. Nur durch heftige Gegenwehr und der Behauptung
„Ich kenne Dich!“ entging sie einer Vergewaltigung. Soviel zur friedvollen Hitler-Zeit.
Ich habe ihr immer wieder vergeblich klarmachen wollen, dass damals die Gangster Uniform trugen und jeden Missbeliebigen erschlagen oder ohne Gerichtsurteil ins KZ schaffen konnten. Der einzige
Kommunist im Ort, Toni Schwinger, war 2 Jahre in Dachau zur "Umerziehung" und durfte nachher nichts erzählen.
Der Rest der Schwebheimer waren Duckmäuser geworden. Zu vorgerückter Stunde sang man auf der Kirchweih (der "Kärm") zur Blasmusik "Halt' dei Maul
und babbel nit so dumm. draußen läft der Schutzmoh 'rum!"
3 alte jüdische Frauen wohnten am Kirchplatz. Vroni hat als Kind öfters deren Ofen am Sabbat angefeuert und bekam dann als Belohnung ein paar Matzen. Die wurden um 1940 mit einem Lastwagen
abgeholt.
Man hat nie mehr etwas von ihnen gehört.
In der Nazi-Jugendbewegung lernte sie dann auch ihren späteren Mann, den Oskar kennen. Oskar, von allen Oka genannt, war 2 Jahre älter und arbeite
als Werkzeugmacher in einer Schweinfurter Kugellagerfabrik. Er war sehr sportlich und in der Hitler-Jugend zu einer Art "Kreis-Jugendführer" aufgestiegen.
Bei jedem der vielen Sportfeste glänzte der fesche „Oka“ und war -wie ich später von anderer Seite erzählt bekam- der Schwarm aller Jungmädel (so nannte man damals die Teenager).
Auf alten Bildern kann man sehen, dass beide gutaussehende und begeisterte junge Menschen gewesen sind. Außer Küssen war natürlich nichts. In der damaligen Zeit gab es keine Geburtenverhütung
und mit einem unehelichen Kind wäre man Zeit seines Lebens als „Flittchen“ geoutet worden.
Der Krieg
Als Vroni 17 war und Oskar 19, fing der Krieg an.
Oskar meldete sich freiwillig zur Marine. Er bekam dort wegen seiner bayerischen Herkunft den Spitznamen „Seppel“ und wurde auf dem Schiff immer mal wieder aufgefordert, zu jodeln.
Vroni, die „beim Sachs“ als Tippse gearbeitet hatte, bekam durch die Beziehungen ihres Vaters -der hatte es in der Nazi-Hierarchie zum Leiter der „NSV“ in Schwebheim gebracht- eine Stelle als
Schreibkraft bei der Gestapo (offiziell SD genannt).
Die NSV war die Wohlfahrts-Organisation der Nazis, führte die bekannten „Winterhilfswerk-Sammlungen“ und die „Eintopf-Sonntage“ durch und war für die Sozialhilfe und Unterstützung der
Bedürftigen zuständig.
Vroni diente erst in Schweinfurt, dann in Mühlhausen im eben eroberten Elsass und dann in Danzig.
In Danzig war ihr Chef für das KZ Strutthof zuständig. Sie behauptete später, sie hätte nichts mitbe-kommen. Außer dass ihr Chef -wenn er von Strutthof zurück ins Büro nach Danzig kam- Obst und
Gemüse aus der KZ-Gärtnerei mitbrachte und an alle verteilte. Man muss fairerweise aber sagen, dass Strutthof kein Vernichtungslager, sondern ein Arbeits- und Umerziehungslager war. Eine Art
Zuchthaus ohne Beschwerdemöglichkeit.
Als kleiner Junge in den 50ern war ich mal dabei, als Vroni in Schweinfurt zufällig eine ehemalige Arbeitskollegin traf. Die erzählte, dass sich der damalige Chef kurz nach dem Krieg aufgehängt
hatte. War wohl doch nicht nur eine Gemüsezucht in Strutthof!
Vroni hat sich dann auf eine Stelle im besetzten Norwegen gemeldet. Sie war schon auf dem Weg nach Narvik, als die Stadt in einer Kommando-Aktion von den Engländern erobert wurde. Da wäre sie
1942 nach England in Kriegsgefangenschaft gekommen und es gäbe wahrscheinlich keinen Helmuth und keinen Jürgen.
Ab 1944, als der Krieg in die schlimmste Phase kam, arbeitete sie auf der Gemeindeverwaltung Schwebheim. Nie wollte sie erzählen, was der Grund für
den Wechsel gewesen war. Ob sie vielleicht doch einiges von den Aktionen der Gestapo mitbekommen hatte?
Sie war neben einer Halbtagskraft -der Tochter des Schwebheimer Pfarrers Frank- die einzige Beschäftigte der Gemeindeverwaltung. Der Bürgermeister, ihr Patenonkel Jean (Schank) Haas, arbeitete
als Ingenieur in einer Kugellagerfabrik in Schweinfurt und führte die Gemeinde abends und am Wochenende. Und natürlich in seiner braunen Uniform als Goldfasan!
Nach dem Krieg mussten er und Vronis Vater Schorsch dafür für ein halbes Jahr zur Entnazifizierung und Umerziehung in das Lager Hammelburg.
20 Jahre danach absolvierte dann Helmuth seine Bundeswehrzeit dort.
Den Bombenkrieg bekamen dann auch die Schwebheimer zu spüren. Grund dafür waren die Nachbarschaft zu Schweinfurt und die Scheinstellungen im Wald zwischen Schwebheim und Schweinfurt.
Schweinfurt war praktisch die einzige Stadt in Deutschland, in der Kugellager hergestellt wurden. Und ohne Kugellager dreht sich kein Rad, kein Geschützturm, kein Propeller. In der Geschichte des
2. Weltkrieges sind die beiden US-Bomber-Angriffe auf Schweinfurt im August und Oktober 43 berühmt. Vor allem, weil die Amerikaner wegen der starken Abwehr jeweils mehr als 1/3 ihrer Bomber
verloren. Die "normale" Verlust-Rate war sonst "nur" etwa 10%.
Eine Flotte von jeweils mehr als 350 B- 17-Flying Fortress, die von England kamen und ihren todbringenden Inhalt loswerden wollten. Wenn das erste Flugzeug seine Bomben über Schweinfurt abwarf,
war das letzte noch über Frankfurt. Eine richtige Fließband-Arbeit! Die Alliierten hatten erkannt, wie kriegsentscheidend Kugellager waren und legten Schweinfurt systematisch in Trümmer.
Und Schwebheim -nur 5 Kilometer von den Kugellagerfabriken entfernt- bekam einiges mit. Weil nervöse Bomberbesatzungen ihre Ladung zu früh oder zu spät „entsorgten“.
Vroni und ihre Mutter konnten ihr Haus nur retten, wenn sie während der Angriffe aus dem schützenden Keller in den Dachboden eilten und die Stabbrand-Bomben, die dort feuerspeiend wie große
Wunderkerzen lagen, mit einer Zange aus dem Dachfenster schmissen.
Der Vater von Vroni war trotz seines Alters von 40 Jahren noch eingezogen worden. Nach Polen in eine Versorgungs- und Instandsetzungseinheit. Kurz vor Kriegsende war er aber -aus welchen Gründen
auch immer- nach Hause geschickt worden. Mit den anderen alten Männern des Dorfes sollte er dann noch die Amerikaner zum Stehen bringen. Im sogenannten Volkssturm, dem letzten Aufgebot.
Schwebheim aber übergab sich Gott sei Dank kampflos. Eine Rolle spielte dabei Käthes Tante Frieda. Doch dies ist eine andere Geschichte.
Einmal musste Vroni helfen, das Rügamer-Haus mit Jauche zu löschen. Es war Nacht, die Wasserleitung war getroffen und der Löschteich zu weit weg. Man bildete eine Eimerkette und schüttete
„Suddel“ in das brennende Haus. Mit Erfolg und mit dem entsprechenden Gestank.
Ein Haus in der Nachbarschaft (die Knies-Familie) wurde bei einem Angriff völlig dem Erdboden gleichgemacht. Die Frau kam mit den beiden Kindern (der Mann war ja, wie alle Männer zwischen 19 und
40, an der Front) nach dem Angriff aus dem Keller gekrochen und das ganze Haus mit allem, was sie besaßen war weg!
Vronis Freund und unser späterer Vater Oskar hatte ein richtiges Himmelfahrts-Kommando als Minen-Räumer auf der Nordsee. Aber, wie er später erzählte, an Bord hatte man es warm unter Deck, hatte
eine eigene Hängematte, gute Verpflegung und nicht weit zur Arbeitsstelle. Gelegentlich flog einer beim Minen-Entschärfen in die Luft, aber das ging schnell und schmerzlos. Oskar hat Zeit
seines Lebens keinen Fisch gegessen, weil einige seiner getöteten Kameraden von den Fischen angefressen wurden. Aber bis auf einen Wadendurchschuss kam er ohne körperliche Blessuren durch den
Krieg. Für den Durchschuss bekam er das Verwundetenabzeichen in Schwarz, Beides haben Helmuth und Jürgen nach dem Krieg immer wieder bewundert: Die Narbe und das Abzeichen.
Er hat das Glück gehabt, den Krieg durchzustehen ohne einen Menschen töten zu müssen. Und mit einer Todesrate von etwa 1/3 war das Risiko auch nicht größer als an der Ostfront.
Heirat und Mutterschaft
1944 bekam Oskar Heimaturlaub zum Heiraten. In einem etwas angeheiterten Zustand hat er später
mal erzählt, dass er am Morgen des Hochzeitstages endlich zum ersten Mal mit seiner Vroni schlafen wollte. Aber sie blieb hart; erst nach der Trauung ging‘s ins Bett!
Zur Hochzeitsreise ging‘s nach Berchtesgaden, wo der vorwitzige Ehemann beim Spaziergehen auf einer Eisplanke ins Abgleiten kam und sich
Gottseidank nach einigen Metern Rutschfahrt festkrallen konnte. Sonst wär’s abwärts gegangen und Helmuth und Jürgen wären in der Nicht-Existenz geblieben.
Im Frühjahr 1945 kamen die Amis nach Schwebheim und 4 Wochen später war der Krieg zu Ende. Oskar musste noch ein halbes Jahr für die Engländer Minen
räumen, kam im Herbst nach Hause und zeugte Helmuth.
Mitte Mai 46 war es dann soweit:
Am späten Abend setzten die Wehen ein. Vroni wollte im städtischen Krankenhaus in Schweinfurt entbinden. Bus oder Taxi gab es nicht. So fuhr man mit einem Fahrrad los. Sie hatten nur eines.
Vroni auf dem Gepäckständer. Als die Wehen immer häufiger wurden, mussten sie an jedem zweiten Telegrafenmast (alle 100 Meter) halten. Vroni kauerte sich hin und warte, bis die Wehe vorbei
war.
Die Brücke über dem Main war gesprengt, aber der Fährmann hatte ein Einsehen und holte die beiden (mit dem ins Leben drängenden Helmuth) über.
Sie schafften es gerade noch bis zum Krankenhaus und am 16. Mai in der Früh kam ihr erstes Kind -ein gesunder Junge- auf dieser Welt an. Helmuth wurde er nach dem älteren Bruder von Oskar
genannt. Der war mit 19 Jahren in der ersten Kriegswoche in Polen "gefallen", wie man beschönigend für das elende Sterben als Soldat sagt.
Wenn man den Main als Grenze zwischen Preußen und Süddeutschland ansieht, so ist Helmuth -und auch später Jürgen- ein geborener Preuße. Weil das
Schweinfurter Krankenhaus etwa 500 Meter auf dem nördlichen Ufer des Maines liegt!
Man bezog 2 Zimmer im Haus von Vronis Eltern. Der Rest des 1. Stocks war durch eine 6-köpfige Flüchtlings-Familie belegt. Die Küche teilten sich die 3 Familien. Natürlich mit den entsprechenden
Spannungen! Wie gesagt; es gab praktisch nichts zu kaufen in dieser Zeit! Oskar baute mit einem Kumpel eine Destille und brannte Schnaps aus Zuckerrüben. Die Hälfte des Schnapses bekam der
Lieferant der Zuckerrüben. Mit dem Rest konnte man wieder etwas anders eintauschen.
Prompt wurden die Schnaps-Brenner verpetzt und der Zoll konfiszierte die Destille. Die Geldstrafe war erträglich; war doch das Reichsmark-Geld fast wertlos.
Oskar erzählte gelegentlich von der Gerichtsverhandlung, bei der er verdonnert wurde. Obwohl er nicht beim Brennen erwischt worden war. Nur die Destille wurde bei der Hausdurchsuchung gefunden.
„Der Besitz der Anlage reicht als Grund aus“ sagte der Richter. Angeblich hat Oskar ihm entgegnet, dass demnach der Richter auch wegen Vergewaltigung strafwürdig sei. Wahrscheinlich war die
Geschichte erfunden. Se non e vero, e molto ben trovato!
Babynahrung und Windeln gab’s auch nicht. Man kann sich kaum vorstellen, wie Vroni nach einer Brustentzündung den kleinen Helmuth mit Mehlpapp satt bekommen hat. Und dass Helmuth keine
(sichtbaren) Schäden von dieser Mangelernährung davongetragen hat.
Nachkriegszeit – es geht aufwärts
1948 kam die Währungsreform. Und der zweite Sohn Jürgen.
Auch er war -wie man im Rheinland sagt- ein „Mallörchen“. (es gab ja vor der Währungsreform nicht mal Kondome zu kaufen!)
Ich kann mich noch erinnern, wie meine Mutter mit dem kleinen Brüderchen im Arm vom Nachbarn Stolle mit einem alten Auto nach Hause gefahren wurde. Und ich sollte mich auf mein kleines
Brüderchen freuen. Was ich aber nicht tat. War ich doch ab jetzt der „Große“, sollte vernünftig sein und alles mit dem kleinen Bruder teilen.
Die Familie war auf 4 Köpfen angewachsen, die ernährt werden wollten.
Jetzt konnte man wieder alles kaufen. Vorausgesetzt man hatte Geld. Und Geld hatte man nur, wenn man Arbeit hatte (Der Stundenlohn eines
Facharbeiters war damals 1 Mark und fünfzig).
Oskar fand Arbeit. Erst beim Wiederaufbau der zerstörten Mainbrücke, dann bei der neuen Kugellagerfabrik Star und dann bei den „Schweden“, der
Schwedischen Kugellagerfabrik SKF. Dort arbeitete er als Dreher bis zu seiner Pensionierung Mitte der 80er.
Unvergessen ist das „Wiesenfest“ jedes Jahr im Juni. In der firmeneigenen Erholungsanlage am Sennfelder See (mit Sportplätzen und Schwimmbad) feierte die ganze Firma ein rauschendes Fest. Mit
Freibier, Würstchen, Kinderbelustigungen und einem krönenden Feuerwerk. Das förderte das Zusammengehörigkeits-Gefühl und wurde noch vor der Jahrtausendwende aus Kostengründen
abgeschafft.
„Corporate Identity“ -der Stolz auf die eigene Firma- wird heute von Werbeagenturen produziert!
Alles wurde probiert, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Dabei hatte man noch Glück: Man hatte ein Zuhause, einen Garten, ein Schwein im Stall, Hühner und Kaninchen.
Die Vertriebenen hatten gar nichts. Flüchtlinge wurden sie genannt und waren überhaupt nicht willkommen. Weil sie die Einheimischen ständig an den verlorenen Krieg erinnerten. Und weil sie eine
anderen Dialekt sprachen. Und weil sie -im evangelischen Dorf- als Katholische eine seltsame Minderheit waren. Und weil sie von der Gemeinde zum Häuslebauen Baugrund für die
„Flüchtlings-Siedlung“ für sagenhafte 12 Pfennig pro Quadratmeter bekamen.
Es gab damals einen makabren Witz: "Engerlinge, Schädlinge, Flüchtlinge!"
Ich schäme mich heute noch!
Unsere Eltern haben nie abfällig über die Neubürger gesprochen; vielleicht, weil sie selber auch nichts hatten. Ihre besten Freunde waren zwei Flüchtlings-Ehepaare: Die Heblings und die
Hippachers. Für uns Kinder war das eh kein Thema. Es war sogar interessant, wenn der katholische Freund sich für die Beichte die verschiedensten Vergehen ausdenken musste!
Vroni ging für 1 Mark die Stunde mit den Bauern (meistens mit den „Luwers“) aufs Feld. Oskar fing eine Hühner- und Truthahnzucht an. In der Küche stand der Brutofen. Nach 1 Woche wurden die Eier
über eine starke Lampe gehalten. Da sah man, ob sich ein Embryo gebildet hatte. Wenn nicht, kamen diese Eier in den Kuchen oder die Suppe oder wurden zu Rührei verarbeitet. Mir graut heute
noch!
Nach 4 Wochen pickten sich die Küken durch die Schale und 100 Küken wuselten in einem großen Pappkarton in der Küche. Die Küche war der einzige warme Raum im Haus und dort spielte sich das ganze
Leben ab. Samstagabend wurde die Blechbadewanne aufgestellt und Helmuth und Jürgen machten Wasserschlacht in der Küche.
„Kommen Sie ruhig rein, wir baden gerade!“ sagte man spaßeshalber, auch wenn an anderen Tagen Besuch kam. Immer unerwartet. Es gab ja kein Telefon oder Handys, mit denen man sich verabreden
konnte.
Auch ins Obst-und Gemüse-Geschäft war man eingestiegen. Ein uralter Vorkriegs-Lieferwagen wurde gekauft. Ein dreirädriger Goliath-Zweitakter, der nur nach mühseliger Kurbelei oder Schieberei
ansprang und mit der atemberaubenden Geschwindigkeit von 40 km/h durch die Gegend qualmte. Mit dem „Moggele“, wie ihn Vroni nannte, wurden dann am Sonntag Ausflüge gemacht. Alle 4 enggequetscht,
ohne Sicherheitsgurte. Es gab keinen Blinker. Vroni oder der Beifahrer winkte mit der Hand aus dem Fenster und zeigte so die beabsichtigte neue Fahrtrichtung an. Blinker gab es damals sowieso
nicht. Die waren noch nicht erfunden. Es gab Winker.
Ein Scheibenwischer wurde erst nach einer polizeilichen Ermahnung eingebaut. Vorher hatte Vroni bei Regen das Fenster runter gekurbelt und mit der
linken Hand die Scheibe abgewischt. Vroni -nicht Oskar- machte den Führerschein Klasse 4. Für Traktoren, Klein-Lieferwagen und Motorräder.
Ich erinnere mich noch heute an das Lehrbuch. Ich hatte 1953 gerade lesen gelernt und verschlang alles, was gedruckt war. Da waren zum Beispiel 2 Arten von Ampeln beschrieben: Die Zeigerampel
hing mitten in der Kreuzung. Langsam wanderte ein Zeiger über die rote Hälfte bis zur grünen und wieder zur roten. Hoyer-Ampel hieß damals die heutige Ampel mit Rot, Gelb, Grün
übereinander.
In ganz Schweinfurt gab es keine einzige Ampel. In der Rathauskreuzung stand ein Polizist und regelte den Verkehr mit den Armen. In den späten 50ern wurde eine Ampel mitten über die Kreuzung
gehängt. Oben an der Hausecke war ein Glaskasten. Über einer Leiter kletterte der Polizist in diese Kabine und betätigte die Ampel je nach Verkehr. Da war er wenigstens vom schlechten Wetter
geschützt!
Das Gemüse-Geschäft bestand aus einem kleinen Gemüsestand auf dem Marktplatz von Schweinfurt und einer Art Tapezier-Tisch im Schuppen hinter dem Haus. Das Angebot war einheimisches Obst und
Gemüse. Was nicht verkauft wurde mussten wir aufessen, wenn man es nicht einkochen konnte. Einen Kühlschrank oder Tiefkühlung gab es ja nicht.
Aber alles lief nicht so richtig erfolgreich. Außerdem gab es ständig Differenzen mit dem eigentlichen Familienoberhaupt -Oma Lina- der Mutter von Vroni. Die war sehr resolut und mischte sich in
alles ein. Vroni erzählte mir letztes Jahr, dass sie noch eine „Watsche“ von ihrer Mutter bekam als sie schon verheiratet war.
Außerdem mochte Lina Oskar nicht. Der war katholisch, aus der Stadt und hatte nichts mit in die Ehe gebracht. Nach ihrer Meinung hätte Vroni jemand heiraten sollen, der mit einem weißen Hemd
und Schlips ins Büro ging. Armin Wagner, der Schulfreund von Vroni wäre der passende Kandidat gewesen. Er war der uneheliche Sohn des letzten -kinderlosen- Barons von Schwebheim und arbeitete
am Landgericht. Später erbte er auch tatsächlich das verfallene Schloss und den Wald. Aber der gefiel Vroni nicht. Sie setzte ihren Willen durch und heirate den Habenichts aus der Stadt.
Man fasste den Entschluss, ein völlig neues Leben anzufangen und nach Kanada auszuwandern. Bücher mit einem englischen Sprachkurs wurden gekauft und die ganze Familie versuchte die ersten englischen Sätze zu sprechen.
Lina und Schorsch sahen nun ein, dass die Wohnungssituation geändert werden müsste und stifteten den Bauplatz am Ende des Gartens. Sie bezahlten Steine, Zement, Balken und Dachziegeln. Opa Schorsch war sehr gutmütig und machte immer was Oma Lina beschlossen hatte. Und ich habe ihn als glücklich und zufrieden in Erinnerung!
Die Baugrube wurde in mühevoller Arbeit mit der Schaufel ausgehoben. Ein Bagger hätte 60 Mark die Stunde gekostet. Das war fast ein Wochenlohn! Viel zu teuer! Ein Sack Zement kostete 4 Mark, das
waren über 2 Stundenlöhne. Ein Dachziegel 50 Pfennig, soviel wie eine Flasche Bier. Bei 1 Mark 50 Stundenlohn ein Schweinegeld. Eine Mörtelmaschine gab’s auch nicht. Der ganze Beton für
die Kellerwandung und die Decken wurde mühsam mit der Hand gemischt und dann per Eimer hochgeschleppt. Förderband oder Lastenaufzug Fehlanzeige!
Die Hohlblocksteine machte Oskar selber: Bims-Steinchen und Beton wurden gemischt und in selbstgebaute Formen gefüllt. Am nächsten Tag waren 10 Hohlblocksteine fertig. Wieder 10 Mark gespart!
Übrigens der Beton und der Mörtel: Da ja Zement und Kalk zum heutigen Vergleich extrem teuer waren ging es nach dem Motto: Wasser und Sand gibt auch eine Wand! Mit der entsprechend geringen
Haftbarkeit und Tragkraft. Von Vorteil war die Sparmischung nur, wenn man gebrauchte Steine „abklopfen“ musste. Da bröselte der alte Mörtel leicht ab und man konnte den „Second Hand-Stein“
nochmals verwenden.
Zwischen dem Schulanfang von Helmuth und Jürgen –es muss so 1953/54 gewesen sein- zogen wir ins neue Haus. Im ersten Stock war nur ein einziges Zimmer ausgebaut: Das Zimmer der beiden Buben. Der Rest des Obergeschosses blieb einige Jahre Rohbau.
Und dann kam das Angebot der Kreissparkasse Schweinfurt an Vroni. Sie sollte „Banker“ werden. Bis dahin gab’s noch keine Bank- oder Sparkassen-Filiale in Schwebheim. Außer der Postsparkasse beim Posthans.
In den Vorbau wurden ein Tisch und drei Stühle gestellt. Das war dann das Büro. Im Wohnzimmer stand jetzt ein Geldschrank und ein Telefon, das aber
nur für dienstliche Zwecke benutzt werden durfte. Und einmal pro Woche fuhr Vroni mit dem Bus nach Schweinfurt und kam mit einer Tasche voll Geld wieder zurück. Schwer war sie, die Tasche, vor
allem wegen des Hartgeldes.
Die Kunden kamen natürlich auch abends und öfters stand der alte „Dickerla“ auch am Sonntag an der Gartentür und wollte Geld abheben, wenn er wiedermal ein Geschäft gemacht hatte.
Dickerlas-Hans, der Großvater von Karlheinz Weißgerber und Urgroßvater unserer Europa-Abgeordneten Antje Weißgerber, war der größte Schacherer im Dorf.
Vroni bekam zuerst 100 Mark und später 200 Mark pro Monat dafür.
Lesen war die einzige Leidenschaft von Vroni. Sie und Oskar saßen jeden Abend nach dem Abendessen in der Küche, jeder in sein Buch vertieft.
In der Küche, weil das Wohnzimmer vor der Erfindung des Fernsehens das ganze Jahr bis auf die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr ungeheizt und kalt war.
Öffentliche Büchereien gab es damals noch keine. In Schweinfurt an der Johannis-Kirche war eine (private) Leihbücherei, wo sich Vroni einmal in der Woche mit Büchern eindeckte. Und das musste
jedes Mal gut überlegt sein: Ein Schmöker, das waren die 08/15-Liebesromane, kostete 40 Pfennig; ein „Karl-May“ 80 Pfennig und ein gutes Buch -also die richtigen Romane- 1 Mark pro
Woche!
Ab 1956 ging Helmuth nach Schweinfurt in die Oberrealschule. Im Sommer mit dem Fahrrad, im Winter mit dem Bus. 10 Kilometer. Eine Wochenkarte für den Bus kostete 2 Mark. Morgens um ½ 8 ging‘s
hin und mittags kurz nach 1 Uhr wieder zurück.
Wenn man den 1 Uhr Bus verpasste, musste man sich bis zum Arbeiterbus um ½ 6 Uhr die Zeit vertreiben. Helmuth saß dann bei einer Limo im Kaufhaus Kroneneck oder Kretschmar und machte
Hausaufgaben.
Nach dem ersten Jahr in der höheren Schule konnte Vater Oskar nicht mehr bei den Aufgaben helfen. Da hieß es „Vogel friss oder stirb“. Na ja, Helmuth hat die 9 Jahre ohne Sitzenbleiben geschafft
und Oskar und Vroni waren nur ein einziges Mal in dieser Zeit in einer Elternsprechstunde. Die waren ja abends und danach gab’s keinen Bus zurück nach Schwebheim!
Der Kochlöffel
Zwei wilde Buben, die sich oft in die Haare gerieten, überforderten oft die Geduld der
hochbelasteten Mutter. Wenn etwas kaputt gemacht wurde lief es meist folgendermaßen ab:
Unter lautem Protestgeschrei wurde einer von den beiden von Vroni eingefangen. Der flinke und wilde Jürgen schaffte es
meist, der Prügel zu entkommen. Der etwas langsamere Helmuth wurde in der Regel erwischt und unter heftiger Strampelei übers Knie gelegt und mit dem Kochlöffel „versohlt“.
Wenn Vroni mit Helmuth fertig war, war sie meistens auch so erschöpft, dass sie für Jürgen keine Kraft mehr hatte. Oder der Kochlöffel war zerbrochen.
Bei ganz schlimmen Vergehen ging's am Abend mit Vater Oskar in den Keller. Man wurde übers Knie gelegt und meist nicht mit der Hand, sondern mit dem “spanischen Rohr“ im Extremfall auf den
nackten Hintern versohlt.
Das ist nicht jede Woche passiert, hat sich aber bei beiden Buben bis heute als ungerecht und ohne direkten Bezug zur Tat negativ eingeprägt! Das spanische Rohr war damals auch das
Erziehungsmittel (neben Eckenstehen oder Strafaufgaben) in der Schule. Und wenn Jürgen -oder manchmal auch der bravere Helmuth- nach Hause kam und sich über einen ungerechten Übergriff des
Lehrers beschwerte, hieß es: “Der wird schon recht gehabt haben und uns hat das damals auch nicht geschadet!“
Jürgen war hochintelligent, aber unruhig. Vielleicht würde man das heute als ADS-Syndrom bezeichnen und ihn auf eine andere Art fördern. Die Aufnahmeprüfung für vorzeitige Volksschulanfänger meisterte er mit Bravour und durfte schon mit 5 Jahren in die Schule. Für die Oberschule reichten seine Noten nicht. Er konnte sich halt schlecht länger konzentrieren. Die Aufnahmeprüfung für die Mittelschule hat er ohne Ehrgeiz mitgemacht und kam strahlend mit der Bemerkung „natürlich durchgefallen!“ aus der Prüfung.
Vroni im Drogengeschäft
Als dann eine richtige Zweigstelle der Kreissparkasse eröffnet wurde, war es mit der
Hinterhof-Bank von Vroni Herterich vorbei. Sie ging in den Drogenhandel. Jawohl, so hieß das damals! Und der Enkel Felix wunderte sich vor ein paar Jahren als er das Schild „Drogen“ an der
Heilkräuterfabrik Rügamer sah.
Sie fing im Büro des Drogenhändlers Krämer an und war nach einigen Jahren die Seele vom Geschäft. Mühsam paukte sie sich die lateinischen Namen der Heilkräuter ein.
Übrigens Heilkräuter: Schwebheim wurde „Das Deutsche Apothekergärtlein“ bzw. „Heilkräuterdorf“ genannt.
Wir bauten meist einen Acker Pfefferminze an. Diese Pflanze war recht bescheiden in Ihren Ansprüchen. Der Boden musste nur etwas feucht sein. Deshalb waren die Pfefferminz-Äcker meist in der
Nähe des Unkenbaches. Wenn die Minze etwa kniehoch war wurde sie mit der Sichel geschnitten, mit dem Bollerwagen nach Hause gefahren und dann in mühevoller Arbeit per Hand „gestrüpft“.
Das ging folgendermaßen:
Man nimmt einen Stängel in die linke Hand und streift mit der rechten Hand die Blätter ab. Man kann sich vorstellen, wie lange es dauert, bis man einen Korb voller Blätter hat. Und das war unsere
Arbeit jeden Nachmittag im Sommer. Erst wenn man sein Bündel gestrüpft hatte, durfte man „streunen“. D.d. bis zum Abendessen mit den Freunden in den Wald oder sonst wo hin. Und wenn man dann
beim Freund ankam, saß der noch im Schuppen und war mit seiner Strüpferei noch nicht fertig. Da hat man dann geholfen, damit es schneller zu Ende war.
Die grünen Pfefferminzblätter mussten dann noch auf einem Speicher auf dem Fußboden zum Trocknen ausgebreitet werden. Wenn man die richtigen Leute
kannte, durfte man den Dachboden der Kirche benutzen. Der war schön groß.
Nach einer Woche waren die Blätter meist trocken, wurden zusammengefegt, in Säcke gefüllt und zur Kräuterfabrik gebracht. Da die Katzen wie magisch von der duftenden Minze angelockt wurden,
waren oft ein oder mehrere ebenfalls getrocknete Katzenhäufchen zwischen der Minze. Manche behaupteten, der besondere Geschmack der fränkischen Pfefferminze käme vom Katzendreck!
Da gab’s dann 1 Mark pro Kilogramm. Man kann sich leicht vorstellen, dass ich mein Leben lang keinen Pfefferminz-Tee mehr trinken wollte!
Und dann die „Wollblumen“. Wir hatten einen Acker oder den Rest unseres großen Gartens mit Königskerzen bepflanzt. Die hießen Wollblumen; wohl weil
die gelbe Blüte der etwa mannshohen Pflanze einen wolligen Flaum hat. Wollblumen mussten in aller Hergottsfrühe gepflückt werden. Wenn die Sonne stieg, wurden die Blüten welk und ließen sich
nicht mehr ohne Zerstörung pflücken. Oft saß noch eine Biene in der Blüte. Das spürte man dann, wenn sie einem in den Finger stach! Denn ganzen Frühsommer und Sommer jeden Morgen mit klammen
Fingern seinen umgehängten Beutel mit gelben Blüten füllen. Die frischen Blüten wurden dann auf Drahtgestelle gestreut und in der Sonne getrocknet. Wenn die Sonne nicht so warm war über dem
Ofen. Wenn man nicht aufpasste, wurden die Blüten schwarz und damit wertlos.
Später konnte man die Blüten frisch an die Kräuterfabrik für etwa 1 Mark das Kilo, das waren so etwa 2-3 Eimer, verkaufen. Das Trocknen übernahm dann der Drogenhändler.
Die Söhne
Helmuth machte 1965 Abitur, ging 2 Jahre zur Bundeswehr nach Hammelburg und fing anschließend in
Würzburg mit dem Chemiestudium an. Er war also immer noch nicht von der „pay roll“.
Vroni war damals Mitte/Ende 40 und begriff die wilde Zeit der 68er nicht. Alles wurde in Frage gestellt. Der Vietnamkrieg, die Nazi-Lehrer, die Nazi-Professoren und natürlich auch die
Nazi-Eltern.
Jürgen machte nach der Volksschule eine Lehre als Fernmeldetechniker „beim Sachs“.
Mitunter eine sehr schwierige Zeit für die Mutter. Da auch er seine wilde Zeit hatte, gab’s Probleme mit dem Lehrmeister. Der durfte mit der ausdrücklichen Erlaubnis von Vater Oskar dem
15jährigen öfters eine Watsche geben. Und der großgewachsene Jüngling konnte sich nicht wehren, sonst wäre er geflogen!
Die Berichte wurden nie rechtzeitig fertig; das frühe Aufstehen war jeden Tag ein Drama.
Jürgen war leidenschaftlicher Radiobastler und bracht Nächte in seiner kleinen Werkstatt im Schuppen beim Löten und Verdrahten zu.
Deshalb fing er nach seiner ersten abgeschlossenen Lehre eine neue Lehre als Radio- und Fernsehmechaniker in einem Schweinfurter Radio- und Fernsehgeschäft an. Beendete sie ebenfalls mit Erfolg.
Lernte dann seine Brigitte -die dort als Verkäuferin arbeitete- kennen. Ebenfalls erfolgreich!
Mit Brigitte ist er auch heute noch nach über 40 Jahren zusammen. Auf diesem Gebiet war er weit erfolgreicher als sein Bruder Helmuth!
Zum Stolz der Eltern hat Jürgen noch seinen Meister gemacht und dann mit Schlips und weißem Hemd jahrzehntelang als Abteilungsleiter für
Funktechnik und Brandschutz gearbeitet.
Und wie er gearbeitet hat! Offensichtlich hat er versucht, seine Versäumnisse der Jugend aufzuholen und mit seinem „studierten“ Bruder Helmuth gleichzuziehen.
Und das hat er auch erreicht!
Die Enkel und Ur-Enkel
1975 wurde Vroni gleich zweifache Großmutter. Am 8.5. kam Christine -die Tochter von Brigitte und Jürgen- und kurz danach am 5.8. Anke -die Tochter
von Kaethe und Helmuth- zur Welt.
Jürgen und Brigitte wohnten im Erdgeschoss des Elternhauses. So hatte Vroni und Oskar die kleine Chris praktisch ständig um sich. Und Chris genoss
den ständigen Wechsel zwischen unten und oben. Und das Verwöhntwerden durch die Großeltern. Das blieb auch so, bis die junge Dame Anfang des neuen Jahrtausends in ihre eigene Wohnung nach
Kitzingen zog. Oma Vroni war auch in der unruhigen Zeit der Pubertät ihre verständnisvolle Ratgeberin.
Helmuth und Kaethe wohnten in Nürnberg, da Kaethe im Krankenhaus Nürnberg als Krankenschwester arbeitete und Helmuth an der Uni Erlangen studierte
und dort auch seinen „Doktor“ machte.
Am schönsten war es für Oma Vroni, wenn die beiden Mädchen bei Ihr waren. Die beiden waren ein richtig gutes Gespann. Und sind das bis heute
geblieben!
Im Juni 1987 kam dann der Enkel Felix dazu. Helmuth war zur Berufsfeuerwehr gegangen und hatte bei Bayer in Leverkusen angefangen. Und nach der
Trennung von Kaethe mit der neuen Ehefrau Astrid nochmals Vater eines Sohnes geworden.
Vroni war recht sauer, dass Felix nicht den Nachnamen Herterich bekam, sondern mit dem Familiennamen seiner Mutter eingetragen wurde. Für
uns nicht ganz nachvollziehbar, da ja Vroni auch nicht als Herterich geboren wurde. Aber offensichtlich war sie stolz auf den Namen Herterich, auch wenn der keine besondere Geschichte
hatte.
Da die beiden Enkelinnen -nach Omas Vorstellung- bei ihrer Heirat einen neuen anderen Namen bekommen würden und der einzige männliche Enkel URHAHN hieß, war damit das Geschlecht Herterich erloschen. Diese archaischen Vorstellungen waren für uns jungen Leute gar nicht nachvollziehbar
aber wohl mit der „großdeutschen“ Jugend von Vroni begründbar.
“Du bist nichts, deine Sippe ist alles!“ hieß es bei den Nationalsozialisten.
Astrid verlor ihre Mutter schon mit 10 Jahren. Als Felix 2 Jahre alt war, starb sein Opa Robert, Astrids Vater. Als dann Felix mit 3 Jahren auch noch Opa Oskar verlor, blieb ihm von der
Großelterngeneration nur noch die Oma Vroni. Deshalb und weil er natürlich mit 12 Jahren Abstand zu den anderen beiden Enkeln der Nachzügler war, hatte Felix ein ganz besonders tiefes Verhältnis
zu Oma Vroni.
Mit Valeska und Junis, den beiden Kinder von Anke, wurde Vroni stolze Ur-Oma. Valeska kam 2009 einen Tag nach Oma Vronis 87. Geburtstag „wie eine
Rakete“ zur Welt.
Berlin war natürlich nicht um die Ecke. Und so gab es Familientreffen mit 4 Generationen bei Oma Vroni nur zwei dreimal. Das letzte, an dem sie noch aktiv teilnahm knapp ein Viertel Jahr vor
ihrem Tod. Und beim allerletzten starb sie 1 Stunde bevor Anke mit den Urenkeln eintraf.
Das Drama
Im Juni 1990 verlor Vroni dann ihren Oskar. Und zwar unter sehr belastenden Umständen.
Etwas eigenbrötlerisch war er schon immer. Das lag wohl in der Art. Auch sein Vater -unser Schweinfurter Opa- war im Alter recht sonderbar. Wenn wir ihn einmal im Jahr in seinem Häuschen in
Schweinfurt besuchten, stand er manchmal einfach auf und musste noch irgendwo hin. Das trug natürlich nicht dazu bei, dass Jürgen und Helmuth sich auf den Besuch dort freuten.
Nach seiner Pensionierung kam sich Oskar irgendwie überflüssig vor. (Ich habe das nur indirekt mitbekommen.
Da ich ja in Leverkusen lebte und nur bei den gelegentlichen Besuchen merkte, dass er sich veränderte. Jürgen und Brigitte können bestimmt mehr dazu sagen.)
Das wunderte uns, denn als Dreher bei SKF hatte er je nicht gerade den Traum-Job. Und intelligent und kreativ war er ja; er hätte sich also durchaus -nach unserer Meinung- sinnvoll beschäftigen
können.
Man hatte auch den Eindruck, dass er Vroni -nach all den Jahren, wo er tagsüber außer Haus war- im „Weg ‚rumstand“. Dazu kam noch, dass sein Hang zum Alkohol schlimmer wurde. Jürgen musste oft
bemerken, dass der Schnaps in seiner Hausbar irgendwie verdunstet war.
Ein relativ unwichtiger Streit mit der Nachbarin -ich glaube, es ging um die Mülltonnen- brachte das Fass zum überlaufen.
Offensichtlich hatte sich eine Alters-Depression entwickelt; dazu kam die mangelnde Anerkennung und das Gefühl, dass seine Familie nicht zu ihm hielt. Vroni fand einen Zettel „Ich mag nicht
mehr!“ und sein Fahrrad war auch weg.
Als er nach 2 Tagen immer noch nicht wieder zu Hause war, machten sich Helmuth und Jürgen auf die Suche. Günthers Christian, ein Bauer, der an dem betreffenden Tag auf seinem Feld arbeitete,
hatte ihn gesehen, als er in Richtung Spiesheimer Wald fuhr. Ohne auf den Zuruf von Christian zu reagieren! Dort hatte sich einige Jahre vorher der Zimmerman Dahsler mit Auto-Abgasen umgebracht.
Offensichtlich übte das eine gewisse Anziehungskraft auf den verzweifelten Oskar aus.
Wir fanden zuerst das Fahrrad und dann ihn. Mitten im Wald mit dem Strick um den Hals an einem Baum hängend. Es klingt makaber, aber irgendwie
strahlte die ganze Szene -mit der nur durch Vogelgezwitscher unterbrochenen Stille- Frieden aus. Seine unruhige Seele hatte endlich den Frieden gefunden. Aber um welchen Preis!
Wir alle machten uns Schuldvorwürfe. Warum hatten wir seine Situation nicht rechtzeitig erkannt? Warum hatten wir ihn angeschnauzt, kritisiert und ihm nicht die Anerkennung gegeben, die er
verdient hatte?
Dazu kam, dass er seit ewigen Zeiten alle Geld-Verantwortungen an Vroni abgetreten hatte. Sie sollte Ein- und Ausgaben verwalten; er hatte dazu keine Lust. Das führte dazu, dass er kein eigenes
Geld oder gar ein eigenes Bankkonto hatte.
Wenn er Geld für irgendetwas brauchte, musste er Vroni darum bitten.
So konnte er auch nicht wirklich „abhauen“. Vroni hatte vor unserer Suche noch berichtet, dass Oskar im letzten Streit vor seinem Verschwinden drohte, er ginge weg. Und sie hätte ihm
geantwortet: „Wohin denn? Du hast doch nichts!“. Das führte dazu, dass ich ihr die Schuld an seinem Suizid gab und einige Jahre -bis auf ein, zwei Besuche im Jahr- nichts mehr mit ihr zu tun
haben wollte.
Durch intensive Gespräche mit Gertrud über das Thema Suizid wurde mir aber bewusst, dass es keine „Schuld“ gibt. Und dass die Tragik des Selbstmörders gerade darin liegt, dass er bei den
Überlebenden Schuldgefühle hinterlässt! Ich bin heute froh, dass ich wieder zu meiner Mutter Vroni gefunden habe.
Die Asche von Oskar wurde -wie er es als alter Seemann immer wollte- im Meer versenkt. Pro forma -weil das Bayerische Bestattungsgesetz keine
See-Bestattung vorsah- mussten wir zusätzlich einen Grabplatz in Glückstadt bezahlen.
Vroni war ab da Witwe. Und es gab fast nur noch Witwen in ihrer Altersgruppe. Weil die Männer, bedingt durch Kriegstraumata, Berufsstress, Rauchen,
Trinken usw. deutlich früher als ihre Frauen starben. Nach außen hin hatten sich die Witwen -wie offensichtlich auch Vroni- mit ihrem Schicksal abgefunden. Not litten sie -im Gegensatz zu
früher- ja nicht.
Und das Leben ohne einen nörgelnden Ehepartner hatte ja auch seine Vorzüge.
So erwiderte Vroni einmal in Kreise ihrer 4 Freundinnen, als diese jammerten, wie einsam das Leben alleine sei: “Glaubt ihr denn, dass wir jetzt in der Kneipe beim Kartenspiel wären, wenn unsere
Männer noch leben würden?“
Das letzte Lebensjahr
Vroni hat Glück gehabt. Wie bereits gesagt, war sie in ihrem ganzen Leben nie ernstlich krank. Natürlich ging es so ab ihrem 85. Geburtstag
langsam abwärts:
Sie brauchte einen Rollator -von ihr spöttisch ROLLS ROYCE genannt- um zum Einkaufen und zum wöchentlichen Kartenspielen zu „fahren“. Und um einmal pro Woche zur Gemeindebücherei zu gehen.
Sogar ein Interview erschien im Schweinfurter Tageblatt über die älteste Leserin. Übrigens von der gleichen Autorin verfasst, die später dann auch die ergreifende Bestattungsrede hielt.
Durch ihre fortschreitende Makula wurde das geliebte Lesen immer schwieriger, im letzten Lebensjahr unmöglich. Hörbücher waren ihr zu langatmig. So blieb dann nur noch das Fernsehen als
Zerstreuung.
Auch das geliebte Rauchen wurde ihr im letzten Lebensjahr sehr erschwert:
Sie sah beim Anzünden die Zigarette nicht mehr richtig. Die Umstellung auf eine „elektrische Dampfzigarette“ wurde probiert, machte ihr aber keinen Spaß. Es war schon recht gefährlich anzusehen,
wenn Vroni minutenlang versuchte, ihre Zigarette -manchmal auch den Filter, weil sie sie verkehrt herum hielt- in Brand zu setzen. Verbieten konnten wir ihr das Rauchen -nach ihrer Aussage „ihre
letzte Freude“- aber nicht. So hat denn Jürgen einige Rauchmelder installiert und ging dann auch täglich einige mal zu ihr nach oben, um mit seiner Mutter eine Zigarettenpause zu machen.
An ihrem 90. Geburtstag wollte keine richtige Freude aufkommen:
Jürgen, ihr „Kleiner“ lag im Sterben. Nach einer glimpflich verlaufenen Bauchspeicheldrüsen-Operation in der Uni-Klinik Erlangen bekam Jürgen eine massive Lungenentzündung.
(Wahrscheinlich hatte der Krankenhaus-Keim zugeschlagen)
Er musste ins künstliche Koma versetzt und an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen werden. Über 4 Wochen lang lag er -an vielen Schläuchen und Kabel angeschlossen- bewusstlos auf der
Intensiv-Station.
Ein jämmerliches Bild! Die Ärzte standen, wie sie uns sagten „mit dem Rücken an der Wand“ und nur Brigitte war es zu verdanken, dass die Maschinen nicht abgeschaltet wurden.
Vroni war verzweifelt. Warum wurde die Reihenfolge des „Abtretens“ nicht eingehalten? Obwohl wenig gläubig, bot sie dem lieben Gott an, statt ihren Jürgen doch sie zu nehmen.
Das Wunder geschah: Jürgen wurde wieder gesund und lebt seitdem „auf Kredit“. Und die Reihenfolge war wieder eingehalten.
Die letzten zwei, drei Monate vor Ihrem Tod ging es Vroni immer schlechter: Dekubitus vom langen Sitzen in ihrem Fernseh-Sessel. Offene, stark
nässende Beine. Verwirrtheit. Wie schon die Jahre zuvor hat sich Brigitte bewundernswert um sie gekümmert. Auch Kaethe kam fast täglich, um mit ihr zu reden und ihr vorzulesen.
In 91 Jahren Leben nur 3 Monate Siechtum: Das ist weniger als ein halbes Prozent. Da kann man sich nicht beschweren!
Meiner Meinung nach ist das Leben ein Fluss mit Windungen, Stromschnellen, Untiefen. Manchmal still, manchmal brausend. Man ratscht auch mal über Steine, ditscht ans Ufer, kommt wieder frei und
das Boot bekommt einige Dellen und Schrammen ab. Dann kommt der große und tosende Niagara-Wasserfall: Der Übergang in den ruhigen und alles umfassenden großen See.
Nach diesem Bild hat ihr Lebensboot die Flussfahrt recht ordentlich gemeistert. Nur die letzten paar Meter bis zum Wasserfall waren nicht mehr selbstbestimmt und recht quälend.
Weil es einfach nicht mehr anders ging, musste sie im Spätsommer aus ihrer Wohnung ins Pflegeheim. Am südlichen Ende ihres Heimatdorfes. Mit Blick
auf die Felder. Weil sie in einem verwirrten Moment schlimm gestürzt war, brachte man sie ins Krankenhaus nach Schweinfurt.
Und dort ist sie dann auch im Beisein von Jürgen, Brigitte und Kaethe -wie man so sagt- „friedlich“ gestorben. Wie eine Kerze, die immer schwächer brennt, ein paar mal flackert und dann
erlischt.
In einem lichten Moment sagte sie noch, als sie ihre Besucher erkannte: “Ist etwas passiert?“
Zusammenfassung
Wer war Vroni? Wie war ihr Charakter? War ihr Leben sinnvoll und erfolgreich?
Vroni war ein Kind ihrer Zeit. „Zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl“. So sollten die Hitler-Jugendlichen sein. Sie war „cool“ im Sinne von
beherrscht und wenig Gefühl zeigend.
Nie habe ich sie weinen sehen. Nicht mal bei der Beerdigung von Oskar. Nie hat sie mit uns Kindern gespielt (außer bei Familienspielen wie "Mensch Ärgere Dich Nicht").
Wenn ich als Kind Bauchweh hatte, war es mein Vater, der mir den Bauch massierte. Und Gute Nacht-Geschichten bekamen wir vom Vater vorgelesen. Oskar war viel weicher und empathischer als
Vroni.
Aber wenn man als Säugling die ersten 2 Nächte in die Küche gestellt wird und ohne Erfolg nach der Mutter geschrien hat, ist das Urvertrauen
weg!
Diese Erziehungsmethode hat sie auch bei Jürgen und Helmuth angewandt. Ich muss so geschrien haben, dass sogar Oma Lina protestierte und meine Eltern als „Mörder“ beschimpfte.
Offensichtlich ist Vroni auch als Kind sehr wenig warmherzig erzogen worden. Ihre Mutter Lina verlor ihre Mutter -ähnlich wie Astrid- mit 10 Jahren. Der Vater war Bierbrauer mit dem
entsprechenden Gebaren und allem Anschein nach ein gewalttätiger Trinker. Die Stiefmutter ohne eigene Kinder machte das Leben von Lina und ihrer Schwester Veronika zur Hölle.
Das tragische der Erziehung dieser Zeit war, dass fast jeder als Kind unter dieser Härte und Ungerechtigkeit gelitten hatte und das als Erwachsener wieder 1:1 an seine eigenen Kinder
weitergab.
„Das hat uns auch nicht geschadet!“ war der übliche Spruch.
Wenn wir uns als Kinder wehgetan hatten, bekamen wir kein „Trostpflaster“, sondern wurden geschimpft und es hieß: “Pass doch besser auf!“.
Da sie nie krank war, hatte sie auch mit Oskars jährlich wiederkehrenden „Grippe“ -eine Art schlimme und schmerzhafte Malaria- wenig Mitleid.
Alles was man nicht sehen konnte, war für sie keine echte Krankheit. Mit Ende 80 bekam sie extreme Rückenschmerzen, die nur mit Opioiden auszuhalten waren. Ihre Sorge war, dass „die Leute“ sie
für eine Simulantin halten könnten, weil man ja nichts sah!
„Die Leute“ und was die sagen könnten, war auch in unserer Jugend das regulierende Thema. Das war aber auf dem kleinen Dorf seit Urzeiten so. Man
spiegelte sein Tun immer an der öffentlichen Meinung. Gott sei Dank ist diese Schein-Moralinstanz durch die 68er zu Fall gebracht worden.
Und Gott sei Dank hat die Generation von Helmuth und Jürgen den gewohnten Teufelskreis „Schreien lassen“, „körperliche Züchtigungen“ und „Unterordnung unter zweifelhafte Respektspersonen“
gesprengt.
Das ist vielleicht unsere größte Lebensleistung.
Vroni war eine fürsorgliche und tapfere Mutter. Ich definiere Liebe folgendermaßen: Liebe ist, jemanden den letzten Platz im Rettungsboot der Titanic zu überlassen. Demnach hat sie uns geliebt! Sie hätte alles für ihre Kinder gegeben.
Ihren Mann Oskar hat sie „geführt“. Sehr geschickt. Nach unserer Meinung ohne dass er es merkte oder
dass er darunter litt.
Was sich bei seinem Suizid aber doch als Fehlschluss herausstellte.
Vielleicht ist dieses Zurückdrängen des Vaters der Grund, dass Jürgen und Helmuth auf diesem Gebiet überempfindlich sind?
Nie wären Jürgen oder Helmuth zu ihr gekommen und hätten sie um Trost und Rat gebeten. Mitleid war ein Gefühl, das sie nicht
kannte.
Als die Enkel auf die Welt kamen, war sie ihnen eine liebevolle und verständnisvolle Großmutter.
Hatte das Alter oder Oskars Tod zugeschüttete Gefühle freigelegt?
Sie war immer ehrlich und gerecht. Nie hat sie jemanden beschummelt. Nicht einmal das Finanzamt! Und sie war nie neidisch oder schadenfroh.
Da sie einen so hohen Gerechtigkeitssinn hatte, war sie von der ungerechten Erb-Aufteilung ihrer Mutter ewig enttäuscht. Von ihrem Bruder sagte sie, er wäre ein „Bierbrauer“. Damit meinte sie, er fuhr ihrem Großvater mütterlicherseits nach. Und wie ich bereits erwähnte, hat sie ihrem Bruder nie verziehen. Schade!
Kurz vor ihrem Tod habe ich lange Gespräche mit ihr geführt und ihr klargemacht, dass sie ein erfolgreiches und sinnvolles Leben geführt hat. Dass es nichts ungeklärtes zwischen ihr und ihren Kindern gibt. Und dass sie stolz auf ihre Kinder und Enkel sein kann. Und die sind stolz auf sie.
Mehr kann man vom Leben nicht erwarten!
Geschrieben am 21. und 23. November 2013 in der Reha-Klinik Bad Neuenahr.
Am 29. November um das das Kapitel „Das letzte Lebensjahr“ ergänzt.
Helmuth Herterich