Dr. H. Herterich Juli 1996
Der „Boil-over“ bei Tankbränden
1. Ereignisse
Bei Tankbränden kann es unter bestimmten Voraussetzungen zu überraschenden, gewaltigen Feuerausbreitungen durch den sog. „boil-over“ (deutsch: Überkochen) kommen. Dieses tückische Phänomen ereignete sich bei zwei spektakulären Großbränden des letzten Jahrzehnts:
1) Im Dezember 1982 geriet in Caracas (Venezuela) ein etwa zu 1/3 gefüllter Festdach-Tank nach einer Explosion und Abreißen des Tankdaches in Brand.
Der Inhalt bestand aus ca. 14.000 m³ schwerem Heizöl. (Auf 80°C erwärmt, Füllstand ca. 6 m).
Während der Brandbekämpfung kam es nach etwa 6 Stunden zu einem verheerenden „boil-over“, bei dem der Tankinhalt mehrere hundert Meter in die Luft geschleudert wurde und die Form eines riesigen Feuerballs annahm. Das brennende Öl tötete über 150 Personen, darunter 40 Feuerwehrleute. (Zusätzlich wurden Fahrzeuge, Gebäude und andere Tanks im Umkreis von 400 m zerstört).
2) In der AMOCO-Raffinerie in Milford Haven (Großbritannien) geriet im August 1983 ein etwa zur Hälfte gefüllter Schwimmdach-Tank in Brand.
Der Inhalt bestand aus etwa 50.000 t Rohöl. (Füllstand ca. 10 m). Während der Brandbekämpfung kam es nach etwa 20 Stunden zu einem „boil-over“ mit 40 Verletzten.
2. Grundlage
Trifft Wasser mit Flüssigkeiten zusammen, die
- nicht mit Wasser mischbar,
- leichter als Wasser und
- auf über 100°C erhitzt sind,
so verdampft ein entsprechender Anteil des Wassers schlagartig unter etwa 2000-facher Volumenvergrößerung und Mitreißen der Flüssigkeit.
Findet dieser Vorgang in einem Tank oder Behälter statt, so kann es - je nach Tankgeometrie, Überhitzung der Flüssigkeit, Mengenverhältnis Wasser/Flüssigkeit - zu 3 unterschiedlichen Wirkungen kommen:
1) Zu einem „slop-over“ (deutsch: Überschwappen), wobei aufschäumende brennende Flüssigkeit kurzfristig über den Tankrand ausgeworfen wird.
2) Zu einem „froth-over“ (deutsch: Überschäumen), wobei kontinuierlich brennende Flüssigkeit mit meist geringer Intensität überschäumt.
Dieses Phänomen erlebt man gelegentlich „im Kleinen“, wenn man bei der Zubereitung von „Pommes Frites“ zu viele Kartoffel-Stäbchen in das heiße Frittier-Fett gegeben hat.
3) Im Extremfall zum eigentlichen „boil-over“ (deutsch: Überkochen), wobei große Mengen (oft der gesamte Tankinhalt) aufschäumende brennende Flüssigkeit plötzlich aus dem Tank ausgeworfen wird; dabei können Feuerbälle mit bis zum 10-fachen Tankdurchmesser entstehen. Dieser Effekt (ebenfalls „im Kleinen“) tritt ein, wenn die verzweifelte Hausfrau eine brennende Fritteuse mit Wasser löschen will.
Beim „boil-over“ unterscheidet man zwischen dem spontanen und dem verzögerten „boil-over“:
2.1 Spontaner „boil-over“
Dieser Fall tritt ein, wenn die Gesamtmenge der brennbaren (brennenden) Flüssigkeit auf (weit) mehr als 100°C (Siedetemperatur des Wassers) aufgeheizt ist.
Wird mehr Wasser auf die Oberfläche gegeben, als in der Flammenzone verdampfen kann, so sinkt es aufgrund seiner höheren Dichte mehr oder weniger tief unter und verdampft dabei. Dabei dehnt es sich um das 2000fache aus und schleudert die heiße Flüssigkeit aus dem Behälter.
Je „kompakter“ das Wasser aufgegeben wird, desto extremer erfolgt das Herausschleudern; d.h. bei Schaum oder Sprühstrahl werden sich „slop-over“- oder „froth-over“-, bei Vollstrahl dagegen „boil-over“-Effekte zeigen.
Es wird angenommen, daß sich - ähnlich wie beim Wassertropfen auf der glühenden Herdplatte - um die kompakte Wassermenge eine isolierende Dampfschicht bildet (Leidenfrostsches Phänomen), die das kontinuierliche (relativ gefahrlose) Verdampfen verhindert. Erst in tieferen Schichten der Flüssigkeit kommt es dann zum schlagartigen Verdampfen (Siedeverzug) und im Extremfall zur Entzündung der herausgeschleuderten Flüssigkeits-Wolke (Feuerball).
Im Haushalt tritt dieser spontane „boil-over“ z.B. dann ein, wenn in eine brennende Fritteuse Wasser geschüttet wird und wird dann (wegen der verheerenden Wirkung) als „Fett-Explosion“ bezeichnet.
Im Feuerwehreinsatz ist die Möglichkeit eines spontanen „boil-over“ z.B. bei heißen Wärmeträger-Ölen (teilweise bis zu 300° heiß !) oder beim Inhalt notabgefahrener Destillationskolonnen in Betracht zu ziehen.
Bei Tankbränden dagegen dauert es einige Zeit (Stunden), bis sich der ganze Tankinhalt (d.h. nicht nur der obere, in der Brandzone liegende Teil) auf die notwendige Temperatur von über 100°C erwärmt hat.
Folgerung: Ist die gesamte Flüssigkeit auf über 100°C aufgeheizt, so muß bei Aufbringen von Wasser bzw. Schaum mit spontanem „boil-over“ (unter Feuerball-Erscheinung) gerechnet werden.
2.2 Verzögerter „boil-over“
Dieser Fall tritt ein, wenn nach einer gewissen Zeit (u.U. Stunden) die Wärmezone (Hitzewelle) die auf dem Tankboden befindliche Wasserschicht erreicht.
In der Regel gerät der Tankinhalt an der Oberfläche durch Flammbeaufschlagung (Schweißarbeiten, Verpuffung usw.) in Brand. Durch die Rückstrahlung der Flammen auf die Flüssigkeitsoberfläche wird diese erhitzt.
Unter der heißen Oberflächenschicht befindet sich der relativ kalte Tankinhalt (Bild 1).
Je nach Flüssigkeit dehnt sich diese heiße Schicht nach unten aus und
wandert nun als „Hitzewelle“*) - dem Abbrand vorauseilend - nach unten.
(Bild 2)
Geschwindigkeit des Abbrandes: ca. 10 - 50 cm/Stunde
Geschwindigkeit der Hitzewelle: ca. 20 - 150 cm/Stunde
Die Temperatur dieser Hitzewelle liegt zwischen dem Brennpunkt und dem Siedepunkt der Flüssigkeit (z.B. bei schwerem Heizöl ca. 260°C).
Durch Aufspritzen von Wasser auf die Tankwand (sofortiges Verdampfen) oder Abplatzen des Farbanstriches kann die jeweilige Grenze zwischen der heißen und der kalten Flüssigkeit, d.h. die Geschwindigkeit, mit der sich die Hitzewelle dem Tankboden nähert, ermittelt werden. Mit Hilfe einer Wärmebild-Kamera lässt sich diese Grenze ebenfalls leicht und aus großer Entfernung ermitteln.
Zur Brandbekämpfung eingesetztes Wasser und Schaum erzeugen am Tankboden eine Wasserschicht. (Bei Rohöl ist von Natur aus eine Wasserschicht am Tankboden vorhanden). Erreicht die o.g. Hitzewelle diese Wasserschicht am Boden des Tankes (Bild 3), so verdampft das Wasser mehr oder weniger schlagartig und es kommt zum gefürchteten „boil-over“.
*) Wärmezonen (Hitzewellen) treten laut Literatur besonders bei Stoffgemischen mit weitem Siedebereich auf.
Auch nach dem Löschen des Feuers muss - insbesondere bei sehr hochsiedenden Flüssigkeiten - damit gerechnet werden, daß sich die Wärmezone (Hitzewelle) noch einige Zeit in Richtung Tankboden ausdehnt und u.U. einen verzögerten „boil-over“ verursacht.
3. Zusammenfassung
1) Bei Tankbränden von hochsiedenden, nicht mit Wasser mischbaren Flüssigkeiten (mittelschweres Heizöl, schweres Heizöl, Crack-Öl, Rohöl usw.) muss - je nach Füllstand - nach Ablauf mehrerer Stunden mit einem „boil-over“ gerechnet werden. (U.U. auch nach dem Löschen des Brandes!)
2) Die Ausbreitung der Hitzewellenfront lässt sich außen am Tank dadurch erkennen, dass ein gegen den Tankmantel gerichteter Wasserstrahl oberhalb der Frontlinie verdampft, unterhalb aber abströmt; eine exakte Bestimmung ist auch mit der Wärmbild-Kamera möglich.
3) Spätestens bei der Annäherung der Hitzewellenfront auf 1 - 2 m an den Tankboden ist der Zeitpunkt des weiträumigen Rückzuges gekommen.
4. Literatur
P.-H. Bohl, Brände in der Mineralölindustrie; Kohlhammer Verlag Stuttgart
Großfeuer in „feuersicherem“ Tank; Gefährliche Ladung 12/1983, S. 520
M. Henry u. T. Klem, Boilover im Kraftwerk Tacoa; 112 Magazin der Feuerwehr 10/1983, S. 486
Fire Protection Handbook, 15 th Edition, NFPA; Quincy Massachusetts 1981
W. Elsner, Mineralöl-Tankfeuer; Gefährliche Ladung 2/1983, S. 73